Entwicklung der Osteopathie

Manuelle „Techniken“ sind wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst und entwickelten sich ohne Zweifel durch die instinktiven Versuche, das eigene Leiden zu lindern. Obwohl die medizinische Kunst ihre Wurzeln vor mehr als 6000 Jahren im Niltal hat, ist der Anfang der Medizin schlecht dokumentiert. Die ersten archäologischen Funde sind Schädel aus dem Neolithikum mit unverkennbaren Zeichen einer Trepanation, die ein deutlicher Beweis dafür sind, dass diese schwere Operation bereits im frühen Steinzeitalter versucht wurde.

Hippokrates
Die erste geschriebene Schilderung über das Praktizieren von manuellen Techniken wird auf Hippokrates (460 – 377 v. Chr.) datiert, dem man die erste wirkliche Entwicklung der Medizin zuschreiben muß. Hippokrates benutzte Traktion, direkten Druck und Manipulation, um offensichtliche Kurvenabweichungen der Wirbelsäule zu korrigieren.

Galen
Nach Hippokrates war es Galen (131 – 201 n. Chr.), der bedeutende Beiträge zur Medizin leistete. Er konnte als Anatom und Physiologe einige der Behauptungen der hippokratischen Schule widerlegen. Außerdem konnte er den vorhandenen Kenntnissen eine beträchtliche Zahl von wichtigen Fakten durch Sektionen und Vivisektionen hinzufügen. Trotz seines Beitrags zum biologischen Wissen tat Galen wenig, um die Ursache oder Behandlung einer Krankheit zu verstehen. Er machte allerdings einige Beobachtungen, die sehr eng mit den grundlegenden Prinzipien der Osteopathie verbunden sind. Er erklärte, dass jede Läsion eines Organs eine Veränderung dessen Funktion verursache. Dies war die erste Hinführung zu dem Fakt, dass die Struktur die Funktion steuert und daher eine normale Struktur für eine normale Funktion notwendig ist.

Mittelalter
Seit Galen und während des gesamten Mittelalters bis zum 15. Jahrhundert wurden in keiner mit der Heilkunst verwandten Wissenschaft Fortschritte gemacht. Auch während dieser Periode wurde das Knocheneinrenken als heilende Kunst praktiziert, allerdings von Laien und vollkommen aus dem medizinischen Kreis entfernt. Sie wurde immer noch streng auf Behandlung von orthopädischen und rheumatologischen Störungen begrenzt.

Renaissance
Die nächste Periode, die die Medizin und später auch das osteopathische Denken beeinflußt hat, war die Renaissance. In dieser Epoche sehen wir sowohl eine Wiederaufnahme einiger Prinzipien von Hippokrates und Galen als auch definierte Unterschiede von medizinischen Gedanken.

Iatro-chemische Schule
Paracelsus (1493 – 1541) wird oft der erste moderne Arzt (oder der letzte des Mittelalters) genannt. In der Renaissance war er der Erste, der sich vehement gegen abergläubische Annahmen wandte. Er entwickelte eine Wissenschaft über das Leben und Leiden des Organismus. Drei seiner Annahmen, die mit der Beobachtung von natürlichen Phänomenen verbunden sind, werden in der osteopathischen Philosophie von Still und auch Sutherland reflektiert. Erstens ist die ganze Natur eine Einheit, zweitens ist sie nie komplett und drittens ist sie ein Makrokosmos, der Mensch ein Mikrokosmos. Die Krankheitstheorie von Paracelsus, die man durch seine alchemistische Vorgeschichte erklären kann, besteht darin, dass der Mensch ein chemisches Lager ist. Krankheit ist die Folge von Veränderungen und Ungleichheiten des Lagers. Diese Theorie bildete eine der grundlegenden Richtlinien der iatro-chemischen Schule, von der Paracelsus ein leitender Befürworter war. Nicht nur die Fehlfunktion, sondern auch die Pathologie wurde auf chemische Veränderungen und ein Ungleichgewicht des Körpers zurückgeführt.

Iatro-mechanistische Schule
Der Ursprung der iatro-mechanistischen Schule ist dem französischen Mathematiker und Philosophen Rene Descartes (1596 – 1650) zuzuschreiben. Sein Essay „De Homine“ (1662) wird historisch oft als das erste Physiologiebuch erwähnt. Philosophisch gesehen war Descartes ein Rationalist und seine dualistische Betrachtungsweise des Menschen hat die Medizin und Psychologie allgemein und bis heute beeinflusst. Die Rationalisten, die durch Philosophen wie Platon, Spinoza, Schelling und Hegel vertreten wurden, glaubten daran, die Wahrheit ohne den Umweg über Erfahrung zu finden. Die Menschen wären auf diese Welt mit Antworten auf alle Fragen gekommen, wenn sie sich Zeit zum Denken und Argumentieren nehmen würden. Descartes verstand zudem Körper und Seele als getrennte Einheiten und lehnte den Gedanken ab, dass sie sich gegenseitig beeinflussen.

Descartes sah den menschlichen Körper sehr mechanisch. Auch Still bestand darauf, dass man den menschlichen Körper mit einer Maschine vergleichen kann, deren Funktion primär von der Integrität der unterschiedlichen Teile abhängig war. Die gleichen physikalischen Gesetze der nicht lebendigen Materie (anorganische Natur) wurden in der iatro-mechanistischen Schule auf den menschlichen Körper angewendet. Der Italiener Borelli (1608- 1657) benutzte systematisch das galenische Modell in seinen Berechnungen von Kraft und Bewegung im muskuloskelettalen System. Er betonte die gleiche Vorstellung vom menschlichen Körper wie Descartes (und später Still).

Haglivi, ein Student von Borelli, war ein weiterer Iatro-Mechanist. Seine Ideen vom Flüssigkeitstransport im Körper sind fast identisch mit denen von Still und Sutherland. Seine Vorstellung von Gewebedifferenzierung war begrenzt, weil zu dieser Zeit keine embryologischen Kenntnisse zur Verfügung standen. Er war der Meinung, dass der Körper aus zwei Gewebetypen bestünde. Elastische, fleischige Fasern entstünden aus dem Herzen und formten das ganze Gewebe im muskuloskelettalen System. Fibröse (membranöse) Fasern wären der Ursprung in allen anderen Geweben des Körpers.

Die Vitalisten
Die Befürworter des Vitalismus kehrten zur Synthese von Verstand, Geist und Materie zurück. Das Vitale war bereits seit prähistorischen Zeiten überall ein vorherrschendes Konzept des Lebens. Es war eng mit der Idee von Sokrates und Platon von übernatürlichen „Formen“ oder „Idealen“ verbunden, von der alle greifbaren Objekte und Kreaturen ihre individuellen Merkmale herleiteten. Hippokrates übernahm diese Idee und postulierte eine „anima“ als der Grundlage des Lebens. Diese Ideen wurden von Jean Baptiste van Helmont (1577 – 1644) wieder aufgegriffen. Er wird als der erste Vitalist der Renaissance angesehen. Ein anderer bekannter Vitalist, Theophile de Bordeu, behauptete, dass die Mechanisten mit ihrer maschinellen Vorstellung des Körpers die integrativen Mechanismen völlig übersahen.

19. Jahrhundert A. T. Still
Still sagt: „Mein Ziel ist, dass der Osteopath philosophisch denkt und die Ursache sucht. Osteopathie ist eine Philosophie. Philosophie wird direkt übersetzt als eine tiefe Liebe zur Weisheit“.

Für Still war die Erfahrung als Fundament des Wissens wichtig. Er zitiert den englischen Autor Alexander Pope (1688- 1744) aus seinem „Essay on man“ in seiner Autobiographie von 1897: „Das beste Studium vom Menschen ist der Mensch.“ Er studierte, reflektierte und sezierte über Jahre.

Während des Bürgerkriegs Ende der 50er Jahre, in dem Still als Chirurg arbeitete, traf er auf Major Abbot, der ihm seine Meinung über die Medizin mitteilte. Er schilderte eine medikamentenfreie Zukunft und redete über Konzepte, die sich mit der „heilenden Kraft der Natur“ befassen würden, ohne nur symptomatisch zu denken. Diese Worte hinterließen einen starken Einfluß auf Still, und je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass er diese Gedanken in ein neues und besseres System für die Menschheit einfügen musste. Später sagte Still über Major Abbott: „Er brachte die osteopathische Idee in meinen Kopf und erinnerte mich an die Wissenschaft des Heilens ohne Medikamente.“

Im 19. Jahrhundert wurde die medizinische Literatur auf die Beteiligung des Rückenmarks bei pathologischen Zuständen aufmerksam. Seit Galen wurde dies als ein passives System, als „Dirigent“ von ZNS und Zielgewebe verstanden. 1820 wurden die Gesetze von Bell und Magendie bekannt, 1830 der Reflexmechanismus von Marshall Hunt, 1840 die Veröffentlichung des Deutschen Benedict Stilling über das autonome Nervensystem und die reflexbasierten Mechanismen in Verbindung mit sensorischen und vasomotorischen Nerven, mit denen er versuchte, Gewebekongestion zu erklären. Einige von diesen Arbeiten wurden später von Claude Bernard und Edward Brown-Sequard bestätigt. Es herrscht kein Zweifel daran, daß Still diese Ideen teilweise kannte, weil sie sehr gut mit der osteopathischen Theorie seiner Zeit übereinstimmten. Es wird zudem vermutet, dass eine „Abhandlung über Irritation der Spinalnerven“ von 1843 von J. Evans Riadore als eine Informationsquelle für die ersten Osteopathen diente. Ein anderer englischer Arzt namens Hilton betonte die Verbindung zwischen anatomischer Struktur und physiologischer Funktion, die Verbindung zwischen der Funktion des autonomen Nervensystems und übertragenem Schmerz.

Still sagte 1910: „Hauptziel der Osteopathie ist eine Erleichterung der Blockierung.“ Er betrachtete das Nervensystem und die Irritation der Nerven als eine Reaktion. Die Ursache war etwas anderes.

Die Entwicklung des therapeutischen Konzepts durch Still
Da es Knocheneinrenker schon lange vor Still in den USA gab, liegt die Vermutung nahe, dass er die Techniken kannte, bevor er das osteopathische Konzept entwickelte. Seine Techniken unterschieden sich deswegen deutlich von denen der Knocheneinrenker. Er baute die Techniken in seine Philosophie der Behandlung von allen Erkrankungen und Leiden ein, und nicht nur die „Reposition“ von Knochen, um Schmerzen zu reduzieren.

1864 erlebte die USA eine Meningitis-Epidemie, die auch Stills Familie nicht verschonte. Still machte die schreckliche Erfahrung, drei Kinder dadurch zu verlieren. Weder Priester noch Ärzte konnten seine Familie retten. Viele hätten sich nach einer solchen Tragödie von Gott abgewandt. Still aber kam zu der Vorstellung, dass Gott von Perfektion und Wahrheit war. Er hatte den Menschen als eine perfekte Maschine entwickelt, und so kam er zu dem Schluß, dass die erste Pflicht eines Arztes in der Versorgung dieser Maschine liege. So weit er sehen und fühlen könne, solle er für eine perfekt arbeitende Ordnung sorgen. Still hatte die Vorstellung, dass Gott keine Erkrankungen im Körper entstehen ließ, die Medizin und Heilmittel von außen heilen konnten. Seine intensiven Anatomiestudien führten ihn zu der Ansicht, der Zustand des Körpers sei zuerst durch vorsichtige Palpation einzuschätzen und die normale Funktion durch vorsichtige Manipulation wieder herzustellen.

Still war im Wesentlichen ein Pragmatiker. Wenn er eine bestimmte Therapieform beurteilte, stellte er stets die Frage: „Funktioniert es?“ Er war aber weitblickend und immer bestrebt, einen besseren Weg zu finden. Diese Eigenschaften motivierten ihn, seine eigene medizinische Arbeit und darüber hinaus den ganzen medizinischen Berufsstand zu verbessern. Zusätzlich war er ein philosophischer Denker, der wissenschaftliche Abhandlungen über die osteopathischen Ideale schrieb.

Es ist schwierig, Osteopathie zu definieren. Betrachtet man aber die zwei Teile des Wortes genau, kann man die Definition besser verstehen. Das Wort „osteon“ heißt Knochen, „pathos“ ist die Fähigkeit, Sympathie, Emotion, Leidenschaft, Leiden und Gefühle zu erregen. D. L. Tasker schreibt in „Principles of Osteopathy“ 1916: „Es gibt viele Definitionen von Osteopathie. Jede hat die Tendenz, sich selbst einzugrenzen. Eine Definition limitiert immer die Sache, die deliniert wird. Deswegen ist keine Definition von Osteopathie komplett. Wir reden über ein Prinzip, nämlich über das Universelle, das niemand kennt.“ Littlejohn soll gesagt haben: „Du sollst nicht fragen, ob es ein Fall für die Osteopathie ist, sondern, was die Osteopathie für diesen Fall machen kann.“

Der osteopathische Weg
Im Hinblick auf die Entstehung der Osteopathie sieht man, dass Still mehr als ein „leuchtender Knocheneinrenker“ und die Osteopathie keine Schule der manuellen Medizin war. Sie ist eine Philosophie der medizinischen Arbeit, die durch die richtige Anwendung zu allen Methoden eines Osteopathen passen würde. Osteopathische Manipulationstechniken sind keine Besonderheit nur bei Problemen des Bewegungsapparates, sondern ein integrierter Teil der praktischen Arbeit, basierend auf dieser Philosophie.

Still versuchte, mit seinen Methoden den Menschen und der Natur näherzukommen, wurde allerdings wegen seiner religiösen und poetischen Art kritisiert. Der norwegische Autor und Philosoph Jostein Gaarder machte eine treffende Aussage, die Ziele und Philosophie von Still beschreibt: „In den Schulen wird zu viel Wert auf Wissen und zu wenig auf Einsicht gelegt.“

Kenntnis kann man durch Lesen erreichen, die Einsicht nur durch Reflektieren und daraus folgende Anwendung und Verständnis. Still sagte: „Ich unterrichte Prinzipien, so wie ich sie verstehe, und keine Regeln.“ Ein guter Weg, den Reichtum der osteopathischen Philosophie zu verstehen, ist, Stills Arbeiten zu lesen.

Quelle © www.bundesverband-osteopathie.de